25 Jahre „Mitsprache“ in und für Sebnitz
Der Spätherbst 1989 war trotz kaltem Wetter ein heißer. Die „Mauer“ war unglaublicher Weise plötzlich offen, aber noch nicht gefallen, die Machtorgane der DDR noch in keiner Weise gebrochen. Bereits vor diesem denkwürdigen 9. November machten die Sebnitzer in unerhörter Weise die, schon lange in der Bevölkerung schwelende Forderung nach einer Wende öffentlich. Eine am Donnerstag, den 26. Oktober im „Stadt Dresden“ durch die „Nationale Front“ einberufene prophylaktische Versammlung geriet aus der geplanten Bahn und wurde durch eine erdrückende Menge engagierter Sebnitzer vereinnahmt. Die Funktionäre wurden ausgepfiffen und erstmalig trat ein Vertreter des „Neuen Forum“ öffentlich auf und forderte die Beseitigung des Machtanspruchs der SED. Die Verunsicherung der, unterhalb der Bühne an einem langen Tisch sitzenden Vertreter der Parteien und Organisationen nahm stetig zu als Bürger unumwunden Missstände ansprachen und forderten, dass etwas Grundsätzliches geschehen muss.
Nicht wenige der Anwesenden hielten den Atem an, als R. Franke (später im Stadtrat für „Mitsprache Sebnitz“) nach dem, wohl nicht korrekt ermittelten Ergebnis der letzten Wahl fragte. Bemerkenswert war, dass trotz aller Emotionen und z.T. hitzigen Einwürfen kein Tumult ausbrach und auch der nachfolgende Demonstrationszug friedlich verlief.An dieser Stelle muss gesagt werden, dass sich die Sebnitzer auch in der nachfolgenden Zeit politisch sehr engagierten aber niemals Ausschreitungen zuließen.
Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung schien es notwendig, neben dem „Neuen Forum“ eine lokale Initiativgruppe zu organisieren, die sachlich und überlegt die Entwicklung der Dinge in der Kreisstadt weiter voran treiben, sowie möglichst Nägel mit Köpfen machen sollte. Mit Datierung „Sebnitz, November 1989“ wurde ein „Ormeg-Blatt“, unterzeichnet von E. Schneider, Dipl.Pharm. und M. Frauendorf, Pfarrer, herumgegeben. Das Blatt sprach von notwendiger gesellschaftlicher Umgestaltung und lud für Freitag, den 01. Dezember, 20.00 Uhr zu einem „Begegnungsabend“ in das Diakonat, Kirchstraße 15 ein. Diese Versammlung wurde zur Geburtsstunde der „Mitsprache Sebnitz“.
Die Anwesenden dieser denkwürdigen Runde tauschten unter der Gesprächsleitung von Pfarrer Frauendorf ihre Gedanken aus, fanden, dass man sich organisieren müsse und das Ganze einen Namen braucht. Dieser sorgsam gewählte Name sollte Programm sein. Nahziel war die Mitbegründung eines „Runden Tisches“ in Sebnitz und konstruktive Einflussnahme auf dessen Arbeit. Anwesend in dieser Runde waren u.a.: Ekkehard Schneider, Rainer Franke, Petra und Knut Kretzschmar, Frieder Klein, Gudrun König, Almut und Holger Pabel, Christine Steinbrück, Johannes Müller, Annelie Hübler, Bert Hesse, Rüdiger Schlögel, Werner Piersig.Bereits am Freitag, den 29. Dezember war es soweit und der 1. Runde Tisch tagte, in noch etwas lockerer Form im Diakonat. Die Geschichte der „Mitsprache Sebnitz“ wurde nun auch zur Geschichte des „Runden Tisches“.
Am 15. Januar trat im „Sängerheim“ des Bergsteigerchores im Brauhaus der nun geordnete 2. „Runde Tisch“ zusammen. Man hatte sich auf eine paritätische Zusammensetzung von zwei Personen je Organisation geeinigt, beschloss eine Geschäftsordnung und legte Aufgaben und Ziele fest. Herr Pfarrer Frauendorf wurde zum Gesprächsleiter und Herr Rainer Franke zum Sprecher des „RT“ gewählt. Damit war die „Mitsprache“ eine feste Größe am „RT“. Anwesend waren: Neues Forum: Peter Hellmig, Udo Merkel, Ev. Kirchgemeinde: Pfarrer Frauendorf, Pfarrer Lienig, Kath. Pfarrgemeinde: Pfarrer Pyka, SED-PDS: Ulrich Dornick, NDPD: Wolfgang Spänig, DBD: Eberhard Grafe, CDU: Eberhard Sturm, Franz Wlach, LDPD: Olaf Dehmel, Claus Hörrmann, Mitsprache Sebnitz: Dipl. Med. Holger Pabel, Rainer Franke, Rat der Stadt: Herbert Bergmann (Stellv. Bgm.), Herbert Kretschmar.
Die „Mitsprache Sebnitz“ arbeitete nun intensiv im Vorfeld der aller 14 Tage stattfindenden „Tischrunden“. Es galt zu verhindern, dass nicht nur eine reine „Quatschrunde“ entsteht, sondern das konkrete und sachliche Probleme besprochen werden. Schwerpunkt war, nach Lösungen für aktuelle Probleme zu suchen und Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Neben politischen Fragen, u.a. wie geht es mit der Leitung der Stadt und des Kreises weiter, waren vor allem Sachthemen gefragt wie: Entwicklung Tourismus, Grenzübergang, Kläranlage, Nutzung Zeughaus, Wohnraumlenkung, Sanierung E.-Thälmann-OS, Verlegung des Rathauses in die ehem. SED-Kreisleitung, Abbau der Richtfunkanlage usw. Der Verlauf und die Ergebnisse des „RT“ wurden durch Sprecher R. Franke (Mitsprache) auf den Montagsdemos sowie in der „SZ“ öffentlich gemacht.
Die Demos fanden Montags, z.T. auch Donnerstags auf dem Sebnitzer Marktplatz (August-Bebel-Platz) statt. Zu diesem Zweck hatte man eine Bauleuchte in die Toreinfahrt vom „Sächsischen Hof“ gehängt, E. Lehmann stellte einen Tafelwagen als Sprecherbühne davor und V. Lustig baute eine Mikrofonanlage auf, „Moderator“ war Peter Hesse. Die Demos, mit z.T. anschließendem Zug durch die Stadt, waren durchweg stark besucht und trotz vieler Emotionen immer diszipliniert. Einmal füllten schätzungsweise 6000 Menschen dicht gedrängt den gesamten Platz. Leider gibt es kaum Bilddokumente davon, denn jeder mit einem Fotoapparat wäre sofort für einen Stasispitzel gehalten worden.
Trotzdem das „Neue Forum“ sich um Ordnung und Sachlichkeit bei den Demos bemühte, waren viele Beiträge von Parolen und persönlichen Einzelproblemen geprägt. Es ging aber darum, die Machtstruktur eines ganzen Systems zu verändern, denn nur dann würde sich auch für den Einzelnen etwas ändern. Für die Mitglieder der Mitsprache Sebnitz und dem „RT“ war deshalb jederzeit wichtig, durch Konstruktivität, Behandlung wichtiger Politik- und Sachthemen sowie Bemühungen um deren tatsächliche Umsetzung, die Basis für echten Fortschritt zu schaffen. Es galt auch unbedachte und auf reiner Emotion basierende Handlungen zu vermeiden. Vor allem durfte kein Machtvakuum entstehen, wodurch es u. U. zum Chaos kommen konnte.
Wie sehr die Sache nach und nach von allen Seiten ernst genommen wurde, sah man u.a. an der Tatsache, das z.B. der 9. „Runde Tisch“, am 25. April 1990, den Vorsitzenden des Rates des Kreises Herrn Bretschneider zu einer Stellungnahme geladen hatte und dieser auch erschien. Der 9. „RT“ war der themenmäßig umfangreichste. Eines der äußeren Erfolgszeichen der „neuen Zeit“ war der Umstand, dass seit dem 14. März (6. „RT“) die Tagungen nun schon im „Neuen Rathaus“ auf der Kirchstraße (ehem. SED-Kreisleitung) statt fanden.
Die Arbeit des „Runden Tisches“ in Sebnitz (wohl der einzige ernst zu nehmende im damaligen Landkreis) währte damit mit am längsten. Denn in der Regel waren alle „Runden Tische“ im Land mit der am 18. März stattfindenden ersten demokratische Wahl zur Volkskammer aufgelöst worden. Grund für die Weiterarbeit war, das man es als notwendig ansah, einen gewissen abschließenden Arbeitsstand zu erreichen, der gleichzeitig eine Agenda für die zukünftige Stadtverwaltung sein sollte. Außerdem wollte man die Kommunalwahl am 06. Mai 1990 mit vorbereiten.
Anwesende des letzten „RT“ waren: Gesprächsleiter Pfarrer Frauendorf, Rat der Stadt: Noch-Bürgermeister Heinz Thunig, Hans-Jürgen Hilliger (Stadtbaudir.), DSU: Sigrid Siebeneicher, Peter Hesse, Mitsprache Sebnitz: Rainer Franke, Dietmar König, CDU: Eberhardt Sturm, Günter Gebauer, SPD: Stefan Müller, DBD: Wolfgang Gerlach, Volker Seifert, BFD: Ullus Keidel, Ev. Kirchgemeinde: Pfarrer Lienig, Rainer Kermes, Kath. Pfarrgemeinde: Pfarrer Pyka, Peter Maly, Gäste: Klaus Bretschneider (Vors. R.d.K.), Monika Plarre (Vors. Wahlkommission), Protokoll: Hildegart Wagner. Zu dieser Zeit zählte die Stadt (ohne Hinterhermsdorf) 11.120 Einwohner !!
Mit der Kommunalwahl am 06. Mai 1990 zog die „Mitsprache“ mit Dietmar König und Rainer Franke in das Stadtparlament ein. Damals galt die sog. Norddeutsche Ratsverfassung, d.h. der Bürgermeister (Peter Maly) wurde nicht von der Einwohnerschaft, sondern von den Ratsmitgliedern (damals „Stadtverordnete“) gewählt. Den Vorsitz in der Stadtverordnetenversammlung hatte nicht der Bürgermeister sondern der Stadtverordnetenvorsteher. Für diese Position wurde Karl Hache gewählt (Stellvertr. R. Franke). Karl Hache hatte bei der Kommunalwahl die weitaus meisten Stimmen erhalten und war für viele Bürger der Wunschkandidat für den Bürgermeisterposten gewesen. Er leitete die Stadtverordnetenversammlungen stets souverän und erwarb sich durch seine Arbeit für die Stadt Verdienste und Annerkennung.
Die Mitsprache Sebnitz ist die einzige in der „Wendezeit“ entstandene Kraft, die noch in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben und weiter für die Interessen der Bürger aktiv ist. Hatte man anfangs noch ein Papier mit allgemeinen Zielen herausgegeben, konzentrierten sich die „Mitsprachler“ recht schnell auf konkrete lokale Aufgaben: R. Kermes engagierte sich z.B. intensiv für die Übertragung der Eigentumsrechte an dem Gebäude der SED-Kreisleitung an die Stadt und setzte sich dazu mit der SED-Vermögensverwaltung „Fundament“ auseinander.
R. Franke (später Vorsitzender des Abwasserzweckverbandes) setzte sich für einen anderen Standort der geplanten Abwasserkläranlage ein um die Fläche für ein mögliches Gewerbegebiet frei zu halten. Heute sind dort u.a. der Sebnitzer Fensterbau, die WEA und der ÖPNV ansässig.
Er war auch Mitglied und Mitinitiator der ersten Delegation die am 16.-18. Februar 1990, zwecks Aufnahme partnerschaftlicher Beziehungen, Montabaur besuchte. Gastgeber war Bürgermeister Dr. Posselt-Dölken (weitere Teilnehmer: Herbert Bergmann, Günter Gebauer und Hans-Peter Gottfried).
Dietmar König initiierte die Wirtschaftsförderinitiative (WFI) und leitete deren erste Beratung am 17.02.1992. Man setzte sich für eine neue Turnhalle mit Standort auf dem Schulhof der damaligen E:-Thälmann-Oberschule ein und arbeitete eifrig in den Ausschüssen und Kommissionen mit.
Eine der wichtigsten Aktionen der „Mitsprache“ aber war in jener Zeit, die Einladung eines großen Kreises kompetenter Personen zu einer Diskussionsrunde in den Gasthof „Zum Sebnitztal“ am 11.03.1991. Im Ergebnis konnte, obwohl die Sebnitzer Stadtverwaltung das Rennen schon aufgegeben hatte, mit Unterstützung des Landrates Nikolaus Drexler, eine Vorentscheidung zum Standort des neuen Krankenhauses für Sebnitz erreicht werden. Die Liste der Initiativen der Mitsprache Sebnitz in und nach der „Wendezeit“ bis hin zur Gegenwart ließe sich noch lange fortsetzen. Obwohl oder gerade weil die „Mitsprache“ keine Partei und in sich nur locker organisiert ist, kann sie erfolgreich für die Interessen der Bürger aktiv sein. Für die „Mitsprache“ arbeiteten in den vergangen 20 Jahren folgende Personen im Stadtrat mit: Dietmar König, Rainer Franke, Rüdiger Schlögel, Lutz Boden, Hans-Joachim Gnauck.
Im Vorfeld des Wahljahres 2014 kam es zu wichtigen Veränderungen in der kommunalen Gebietsstruktur. Die Gemeinde Kirnitzschtal, 1994 durch Zusammenschluß der Gemeinden Saupsdorf, Ottendorf und Lichtenhain (bestehend aus den Orten Lichtenhain, Mittelndorf und Altendorf) entstanden, wurde 2012 nach Sebnitz eingegliedert. Mit der bereits vor ca. 20 Jahren eingemeindeten Gemeinde Hinterhermsdorf, gehört nun zu der Stadt Sebnitz ein recht großer Ländlicher Raum (genau genommen gehören hierzu auch die „alteingemeindeten“ Orte Hertigswalde, Schönbach, Hof- und Amtshainersdorf).
Die im Dezember 1989 gegründete Bürgervereinigung „Mitsprache Sebnitz“ sah hier Handlungsbedarf, da die Bürger der umliegenden Dörfer auch in der Zukunft ein Mitspracherecht im Stadtrat haben sollten. In einer Vorbesprechung am 07.01.2014 trafen sich die Mitglieder der Mitsprache und Vertreter der Ortschaftsräte um die Sinnhaftigkeit einer eventuellen Zusammenarbeit zu ergründen. Bereits am 04.02 2014 kam es zu einer Übereinkunft und der Willenserklärung, gemeinsam zur Kommunalwahl im Mai 2014 anzutreten. Als gemeinsame Bezeichnung der Wählervereinigung wurde „Mitsprache Stadt und Land“ gewählt. In weiteren Zusammenkünften wurden die Ziele der gemeinsamen Arbeit formuliert und 24 Kandidaten für die Kommunalwahl aufgestellt.
Gegenwärtig ist die Mitsprache Stadt und Land mit Jörg Hempel, Dietmar König, Detlef Müller, Sandro Dittrich, Wolfgang Mühle und Jens Kirpal im Stadtparlament vertreten.